Kinsey – Die Wahrheit über Sex

Doppelmoral damals und heute

Mr. Kinsey, könnten Sie sich vorstellen, Ihr Buch zu verfilmen? – Nein, das wäre ja nun der größte Blödsinn!

kinsey1… zumindest hat man es mit Ihrem Leben gemacht, Mr. Kinsey, und damit Ihre für damalige Verhältnisse revolutionäre Arbeit gewürdigt. Der am 23.Juni 1894 geborene Alfred Charles Kinsey wächst in einer strengen Familie auf. Besonders der Vater ist erzkonservativen Werten verfallen und predigt sie bei jeder Gelegenheit. Nach erfolgreichem Biologie- und Psychologiestudium wird Kinsey 1929 Professor für Zoologie in Indiana und etabliert sich als anerkannter Insektenforscher. Er heiratet Clara McMillen (Laura Linney), mit der er drei Kinder hat. Erst 1936 widmet sich Kinsey der Sexualforschung mangels vorhandener wissenschaftlicher Erkenntnisse. Er führt mit seinen Mitarbeitern große Befragungen durch. 1947 wird das erste Buch über die männliche Sexualität veröffentlicht, was auch prompt einen Skandal auslöst …

Wenn man heute nach Amerika schaut, wo ein entblößter Busen von Janet Jackson einen großen Skandal auslöst, aber jeder seinen Nachbarn erschießen darf, kann man sich vorstellen, wie es in der Mitte des letzen Jahrhunderts aussah. Masturbation macht blind bzw. „die Birne weich“ und Oralsex unfruchtbar. „Every sperm is sacred …“ etc. Doch wie immer gibt es zwei Seiten der Medaille. Nach Außen hin gibt es nur Geschlechtsverkehr nach der Eheschließung und möglichst nur in einer Stellung. Die Befragungen brachten aber ganz andere und vor Allem wildere Verhaltensweisen zu Tage. Trotz großem Skandal trug Kinsey zur Aufklärung bei und entkriminalisierte vieles „Normales“ in der Sexualität. Regisseur und Drehbuchautor Bill Condon, der sich 5 Jahre Zeit für seine Recherchen nahm, würdigt die Verdienste dieses großen Wissenschaftlers Alfred Kinsey.

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In den USA hat der Film vielleicht noch eine gewichtigere Rolle als in Europa. Hier ist die sexuelle Revolution schon vorbei und der Film dient „nur“ als interessantes Porträt eines interessanten Mannes. In den USA sieht es da schon etwas anders aus. Der Unterschied zwischen Realität und von der Öffentlichkeit vermittelten Realität ist immens. „Doppelmoral“ ist hier das gebräuchliche Wort. Dort sind die Bücher von Kinsey immer noch aktuell/nötig und ein solcher Film auch eine Art Aufklärung. Wie immer in solchen Fällen wird er aber das betreffende Publikum gar nicht erreichen, da diese Leute sich den Film überhaupt nicht ansehen. Vor dem Filmstart gab es wieder die üblichen erhitzten Diskussionen ausgehend vom konservativen Lager. Der Film floppte prompt an den amerikanischen Kinokassen.

Die von Condon gewählte Erzählweise und damit Präsentation von Kinseys Leben ist zwar nicht revolutionär, aber durchaus erfrischend. Condon arbeitet mit einigen Zeitsprüngen und bedient sich eines Mittels, was auch bei Kinsey (Liam Neeson) exzessiv Verwendung fand – der mündlichen Befragung. So gibt Kinsey höchst selbst Details seines Lebens und Liebeslebens preis. Immer wieder eingeflochten werden auch die Probandenbefragungen, die Kinsey und Co durchführten. Diese gehören zu den witzigsten Stellen des Films. Heutzutage kann man über die altmodischen Moral- und Sexualvorstellungen nur lachen, damals war ein Kinsey nötig, um aufzuklären. Die Antworten der Probanden sind so zusammengeschnitten, dass sie fabelhaft unterhalten, aber auch ein Bild der damaligen Gesellschaft geben.

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Condon stellt Kinsey keineswegs als Heldenfigur dar. Er zeigt auch die Schattenseiten seiner Wissenschaft und seiner revolutionären Moralvorstellungen. In der Familie und zwischen den Mitarbeitern kommt es zu Spannungen. Auch übertreibt es Kinsey etwas mit der Freiheit der Liebe und der „Befreiung der Gesellschaft“. Einige Ereignisse wurden von Condon vielleicht etwas überhastet abgearbeitet. So entsteht nicht immer die nötige psychologische Tiefe, um so einen Mann richtig kennen zu lernen. Sicher muss man dabei auch Kompromisse eingehen. Mir fiele jetzt keine überflüssige Szene ein, die man hätte herausnehmen können, um anderes zu vertiefen. Mit etwa 2 Stunden hat der Film auch eine optimale Länge.

Der Film besticht durch intelligente Dialoge und ausgezeichnete Schauspieler. Liam Neesen ist wieder in einer Glanzrolle zu sehen und ist wohl der ideale Kinsey. Auch die Nebenrollen sind stark besetzt, allen voran Peter Sarsgaard (Garden State), der „vollen“ Körpereinsatz zeigt und Laura Linney als Kinseys Frau, die als ruhiger „Gegenpol“ zu sehen ist. Die große Zeitdistanz wird glaubwürdig durch eine gute Maske übermittelt, wenn auch ab und zu „Maske“ zu sehen ist.

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Ich habe einen eher trockenen und langatmigen Film erwartet und wurde positiv überrascht. Der Film ist erfrischend und nie langweilig. Er bietet ein interessantes Porträt von Alfred Kinsey, aber auch der Gesellschaft im damaligen Amerika. Sicher sind Kinseys Ansichten heute wieder etwas überholt und nicht mehr allgemeingültig, doch hat mir der Film einen guten Einblick in Kinsey Arbeit verschafft und auch die gesellschaftlichen Auswirkungen erahnen lassen, die seine Forschung nach sich zog. Nicht zuletzt die freie Liebe der 68er haben wir zu einem gewissen Maße Kinsey zu verdanken. An die schwüle Atmosphäre eines Quills kommt Kinsey sicher nicht heran, was natürlich auch nicht beabsichtigt ist. Kinsey ist nicht de Sade, aber dennoch der Protagonist eines guten Filmes mit dem gleichen Namen.

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Eine Antwort to “Kinsey – Die Wahrheit über Sex”

  1. Jo, fand ich ganz okay. Würde ihn nicht so hoch bewerten wie du, aber das ist Makulatur.

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